Orient - Okzident

Orient - Okzident

 

Einladung zu einem Perspektivenwechsel









 

Ein Jahrzehnt Leben und Arbeiten in Kairo (als österreichische Lehrkraft an der Deutschen Evangelischen Oberschule) hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet und überaus bereichernde Erfahrungen vermittelt.

Das Wertvollste, das mir mein Aufenthalt in dieser so völlig anderen, islamisch dominierten  Kultur gebracht hat, ist der Abstand zur eigenen Kultur und Religion, also die Möglichkeit, meine übernommenen Werte zu überdenken. Im Nahen Osten, wo so viele Religionen ihren Ursprung genommen haben, wurden mir die Kulturgebundenheit der Religionen sowie auch die wechselseitige  Beeinflussung und Durchdringung der Kulturen bewusst.

Ich kann daher mein Heimatland mit Abstand, d.h. aus einem anderen Blickwinkel sehen und hier wie dort die positiven wie die negativen Seiten entdecken. In diesem Sinne möchte ich ein paar Aspekte des Lebens herausgreifen und aufzeigen, wie unterschiedlich – ja nach kultureller Prägung – man sie betrachten kann.


Zum Zeitgefühl:

Gegenwartsbezug versus Zukunftsorientiertheit

Die orientalische Lebensweise ist mehr auf die Notwendigkeiten des Augenblicks ausgerichtet. Es ist die Zeit, die man im Zusammensein, beim Teetrinken, in der Begegnung mit anderen Menschen lebt, die von Bedeutung ist.

Aus westlicher Sicht könnte man dies als planlos oder kurzsichtig bezeichnen, während die westliche Zielorientiertheit, das oft gestresste Seinem-Plan-hinterherlaufen ohne nach links oder

rechts zu schauen, für die Orientalen wesentliche emotionale Werte vermissen lässt. Wir sind dann natürlich überall pünktlich, aber haben wir auch wirklich immer gelebt? 


Zur Geisteshaltung:

Kontrolle versus Fatalismus

Die östliche Schicksalsergebenheit, das Vertrauen auf höhere Mächte drückt aus, dass der Mensch nicht alles unter seiner Kontrolle hat und steht dem westlichen Glauben gegenüber, der menschliche Verstand könne alles beherrschen und man könne das Leben und die Welt in bestimmte Bahnen lenken.

Das eine kann als Motivationslosigkeit oder sogar Faulheit, das andere als westliche Überheblichkeit oder Dominanz kritisiert werden.


Zum menschlichen Miteinander:

Individualismus versus Gemeinschaftsgeist

Die großen Errungenschaften der westlichen Zivilisation, die dem Einzelnen viel Freiraum und Entwicklungsmöglichkeiten geben, stellen sich aus der Außenperspektive als emotionale Armut, Distanziertheit oder menschliche Kälte dar. Im Gegenzug dazu kann das orientalische Gemeinschaftsgefühl, die emotionale Nähe und direkte Begegnung als Mangel an individueller Entfaltungsmöglichkeit, als Distanzlosigkeit oder nerviges Massenverhalten ausgelegt werden. Überfüllte Plätze oder menschenleere Straßen?

Letztendlich sollte man weder die eine noch die andere Gesellschaftsordnung durch die rosarote Brille sehen, aber bevor man den jeweils „anderen“ Menschen verurteilt, sollte man den Versuch gemacht haben, ihn kennenzulernen.


Alice Siebenhofer, 2016